Das Phantom der Oper

 

Hamburg, Neue Flora, 09. Juni 2001  20.00 Uhr

 

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.....und was würde uns heute nun in Hamburg erwarten?? Wir waren auf alles vorbereitet, nur nicht auf dieses Chaos, das uns bevorstehen sollte. Und dabei hatte doch alles so gut angefangen: die Fahrt nach Hannover war zwar anstrengend, aber trotzdem gut und schnell - um 11.00 Uhr kamen wir bei meiner Tochter an. Aber dann             fing es auch schon an - CSD in Hamburg! „Christopher Street Day“  in der Hamburger City. Also schnell den Fernseher an und nachsehen, wo und wie das was stattfinden soll, denn die Neue Flora liegt ja nicht gerade außerhalb von Hamburg. Gegen 14.00 Uhr wussten wir ungefähr, wo der Straßenumzug stattfinden würde. Zum Glück kam er nur bis etwa Fischmarkt, also ein ganzes Stück von der Neuen Flora entfernt.

Um 16.30 Uhr saßen wir dann chic zurechtgemacht im Auto und waren auf dem Weg nach Hamburg. Wir hatten die Zeit großzügig berechnet, weil am Elbtunnel ja immer mal ein Stau sein kann - in 2½ Stunden müssten die 150 Kilometer aber zu schaffen sein - dachten wir. Allerdings ging nun das Unheil erst richtig los - Vollsperrung der Autobahn A 7 in beiden Richtungen zwischen Kreuz Hannover-Ost und Kreuz Hannover-Kirchhorst, wegen Brückensprengung. Volltreffer!!! Genau da müssen wir hin. Vielleicht hätten wir anders fahren können, aber wir hatten vorher nicht auf die Verkehrfunkdurchsagen geachtet, weil wir so auf den CSD konzentriert waren - und da standen wir dann auch schon im Stau. Nichts ging mehr - und der Zeiger der Uhr rückte unaufhörlich weiter. Inzwischen war es schon 17.10 Uhr und auf der Umleitungsstrecke noch keinen Kilometer mehr weiter gekommen.

Meine Tochter hat dann per Handy einen Freund angerufen und gefragt, was wir machen könnten. Die einzige Lösung, die der wusste, war dann nur, dass wir wenden und Landstraße fahren sollen. Nun ja, immer noch besser langsam fahren als ganz still stehen. Los ging´s also auf Landstraßen nach Hamburg - man gönnt sich ja sonst nichts. Was uns etwas beruhigte war, dass ein Hamburger Fahrzeug, das hinter uns im Stau stand, den gleichen Weg wie wir eingeschlagen hatte. Niedersachsen haben wir jedenfalls auf diese Art und Weise kennen gelernt - Celle, Bergen-Belzen, Soltau - alles schöne kleine Städtchen, aber die wollten wir ja gar nicht sehen. Die Strecke zog sich gewaltig, aber da wir im Verkehrsfunk hörten, dass der Stau in und um Hannover immer länger wurde, waren wir doch froh, dass wir wenigstens auf dem Weg in Richtung Hamburg waren. Für die 70 Kilometer Landstraße haben wir durch das hohe Verkehrsaufkommen dann aber auch über eine Stunde benötigt, ehe wir in Soltau endlich wieder auf die Autobahn auffahren konnten. Nun aber Gasfuß und auf nach Hamburg. Zum Glück hatten wir keine weiteren Behinderungen mehr und so liefen wir (hechel, hechel) um 18.50 Uhr im Parkhaus der Neuen Flora ein.

 

Erfreut durften wir nun aber feststellen, dass sich doch noch nicht alles gegen uns verschworen hatte, denn wir hatten die derzeitige Hauptbesetzung auf dem Spielplan stehen - Ian Jon Bourg als Phantom, Colby Thomas als Christine und Kyle Gonyea als Raoul. Was wollten wir denn noch mehr. Wir waren wegen Bourg gekommen und Bourg sang für uns!

 

Was soll ich über das eigentliche Stück noch berichten? Eigentlich müsste doch alles schon beim letzten Besuch gesagt worden sein, oder? Ich muss aber sagen, dass es mir dieses Mal noch viel besser gefallen hat. Ich wusste nun schon, wo ich hinzugucken hatte, damit ich auch jede Bewegung „unseres“ Phantoms zu sehen bekam. So machte alles noch viel mehr Freude. Der Anfang des Stückes ist nicht unbedingt für mich geschrieben, aber es gehört nunmal dazu, dass die Oper „Hannibal“ aufgeführt wird, dass Madame Carlotta und ihr Piangi in den höchsten Tönen singen, dass das Phantom die neuen Direktoren erschrecken will und Madame Carlotta vertreibt, indem er die Kulissen abstürzen lässt, als sie „Denk an mich“ intoniert. Ohne diese Szenen wäre es nicht das Phantom, aber ich warte nunmal immer auf das richtige Phantom.

Übrigens hatte das alternierende Phantom, Michael Nicholson, die Rolle des scheidenden Direktors Lefevre übernommen. So konnten wir diesen sehr bekannten Darsteller auch mal auf der Bühne erleben.

 

Nachdem Christine dann die Rolle der Carlotta übernommen hat und „Denk an mich“ gesungen hat, kam auch endlich die Szene, in der das Phantom in Aktion tritt - hinter dem Spiegel in Christines Garderobe. Dieser Blick, der da durch den Spiegel kam, den werden wir sicher lange nicht vergessen. Nein, sicherlich hat er nicht uns gesehen, falls er durch diese Spiegelfolie überhaupt etwas sieht, aber es kam uns allen so vor, als hätte er genau uns angesehen mit diesen dunklen, tiefgründigen Augen, die da durch die Maske blitzten. Meine Tochter hatte die Aufgabe übernommen, ab und an zu kontrollieren, ob ich geistig noch anwesend war - sie hatte viel zu tun, weil ich gaaaanz weit weg war bei manchen Szenen. Ian war an diesem Tag so gut, ich weiß gar nicht wie ich das ausdrücken kann. Das „Phantom der Oper“, das er zusammen mit Colby auf dem Kahn singt, war schon genial, aber als er dann die „Musik der Nacht“ gesungen hat.........das war so mitreißend, so einfühlsam, so stark, jeder Ton genau getroffen........mir fehlen echt die Worte, weil ich dieses Stück nun schon so oft und in wirklich guten Aufnahmen gehört habe, aber soo gut noch nicht. Wir waren uns später einig, dass dies die beste „Musik der Nacht“ war, die wir wohl jemals zu hören bekommen würden. Ian hatte in dem Jahr seit unserem letzten Besuch noch so viel an der Rolle gearbeitet, dass absolut jede Geste, jede Nuance  und jeder Handgriff saßen. Unser Haupt-Augenmerk lag natürlich wieder auf seinen Händen, die uns alle schon bei unserem letzten Besuch so fasziniert hatten. Einen Mann mit so schönen Händen habe ich auch noch nie gesehen - jedenfalls nicht live auf einer Bühne.

Ich weiß, dass dies eine einzige Lobeshymne für einen einzelnen Mann wird, aber der war soooo absolut gut, dass er das auch verdient hat. Keiner leidet wie er, wenn Christine ihm die Maske abzieht und sein entstelltes Gesicht sieht. Er kriecht jammernd über den Boden auf Christine zu. Ein Häuflein Elend, das man am liebsten aufheben und ans Herz drücken möchte. Erschütternd dann seine Wut, wenn er merkt, dass er Christine nicht behalten kann und er sie zurück zu den anderen bringt. Ian kann jedes dieser eigentlich entgegengesetzten Gefühle so einfühlsam darstellen, als hätte er das alles auch schon mal selbst erlebt.

 

Nach dem normalen Geplänkel zwischen den Direktoren und Carlotta, Piangi, Raoul, Christine, Meg und Madame Giry, kam auch endlich wieder das Phantom ins Spiel. Drohend steht er ganz hoch oben unter der Decke und verkündet, dass nun Krieg sein wird, zwischen ihm und dem Rest der Welt. Unsere Blicke gingen natürlich immer schon vorher dahin, wo er gleich auftauchen würde und so konnten wir immer schon die kleinen Bewegungen und die Schatten verfolgen. Während Christine und Raoul sich später auf dem Dach der Oper ihre Liebe gestehen, hielten wir schon mal die goldenen Engel im Auge, denn da würde er ja gleich wieder auftauchen. Die Engel schwankten auch ab und an etwas, aber das sah natürlich nur derjenige, der die Liebenden da auf dem Dach singen ließ und sich lieber etwas „Interessanterem“ zuwandte.

Und genau das, was mich auch schon jedesmal nervt, wenn ich es auf der Bühne sehe, nämlich dass Raoul und Christine verliebt im Hintergrund singen, während sie vom Phantom beobachtet werden, das muss Ian jetzt singend zum Ausdruck bringen. Versetzt man sich in die Lage des Phantom, so kann man sich vorstellen, welcher Schmerz und welche Wut sich da auf den Engeln zusammenbrauen. Ian muss das auch so empfinden, denn wie sonst könnte er diese Szene so einfühlsam darstellen. Überhaupt erstaunlich, dass man singend das Leiden so darstellen kann! Großartig, wie er leise jammernd, immer lauter drohend, dann schließlich losdonnert, dass man ohne Gänsehaut nicht davon kommt. Gänsehaut ist untertrieben - da vibriert der ganze Körper, wenn er hoch über der Bühne „...nun bist du dem Untergang geweiht, durch das Phantom der Dunkelheit“ dröhnt. Diese Stimme, wie kann ein Mensch so eine Stimme haben - kraftvoll und stark in jeder Höhe und jeden Ton genau treffend, ohne Schnörkel und langsames Anschwellen. Und dann lese ich später in einem Interview, dass er sich nicht einsingt, weil das der Stimme schadet (das widerspricht sicher jedem Lehrbuch), weil der Stimme dadurch die Tiefe genommen wird und nur auf Höhe getrimmt ist. Ja, der kennt seine Stimme genau und setzt sie ein, wie andere ein Werkzeug - fast schon eine Waffe?

„Hiiiiinnnaabbb“ schreit er dann wütend von der allerobersten Galerie und lässt den Kronleuchter auf der Bühne zerschmettern.

 

Tja, Pause, leider! Aber wo ist denn die Zeit nur hingegangen? Ich glaube nicht, dass ich mich irgendwie bewegt habe in diesen 85 Minuten, die der erste Akt dauert. Nein, da war keine Minute Langeweile und immer noch sitze ich wie hypnotisiert auf meinem Stuhl.

 

Die Pause soll 20 Minuten gedauert haben, hat man mir jedenfalls erzählt. Ich weiß nichts mehr davon, nur dass ich ruhig und friedlich auf meinem Stuhl gesessen habe. Das Publikum war an diesem Tag hauptsächlich im gehobeneren Alter, was zu einer ruhigen Atmosphäre betrug. Keine Klatscher an falschen Stellen (grausam, wenn während der „Musik der Nacht“ geklatscht wird!), nur ab und an mal ein Schnäuzen an der falschen Stelle und die bekannten Kunstnebel-Huster. Aber insgesamt hielt es sich wirklich in Grenzen mit den Belästigungen. Allerdings waren einige Männer in unserer unmittelbaren Umgebung mehr oder weniger gezwungen worden, hier erschienen, was man unruhigem Sitzverhalten und am erklärenden Schwätzen während der Vorstellung bemerkte. Verstehen Männer dieses Stück vielleicht nicht? - oder falsch? Vielleicht sollte der eine oder andere vorher doch mal das Buch von Leroux zur Hand nehmen, damit er versteht, wer denn das Phantom ist und warum es so ist, wie es ist.

 

Dass sich Ian sehr viele Gedanken um das Phantom und seine Darstellung gemacht hat, habe ich auch in einem Interview gelesen. Er hat dann aber auch versucht, das so darzustellen, wie er es verstanden hat. Er schreibt in diesem Interview, dass es sicher einfach ist, einen ärgerlichen Psychopaten darzustellen, aber da steckt noch viel mehr Tiefe in dieser Person (meine Rede!!). Er hat auch eine erotische und sexuelle Komponente in dieser Rolle entdeckt (der auch??), obwohl Erik (das Phantom) wahrscheinlich nie in seinem Leben Sex hatte.  Das bringt er genau so auf die Bühne - nicht offene, aufdringliche Erotik, sondern nur für den sichtbar, der es sehen und verstehen will. Kleine Gesten, Handbewegungen, Abbrechen einer Bewegung, einen Schritt zurück und ähnliches. Ich finde, genial wie er das macht.

 

Und nicht nur seine Stimme benutzt er als Werkzeug, nein in der Szene („Der letzte Schritt“ - ...von nun an gibt es kein Zurück), in der er diese schwarze Kutte mit Kapuze trägt und man nur die Hände sehen kann, setzt er diese als emotionales, erotisches Werkzeug ein - aber wahrscheinlich auch nur für den sichtbar, der das sehen kann. Ein Ausstrecken der Hand - dann aber schnell wieder zurückziehen, jetzt ein Streichen über die Schulter von Christine - aber im letzten Moment doch nicht ausgeführt, das Berühren der Hände von Christine, sie aber nicht festhalten - bis zum Höhepunkt, bei dem er Christine an den Händen packt und heranzieht. Obwohl man in dieser ganzen Szene nur die Hände sieht, spürt man wie er leidet, hofft, zweifelt und dann endlich zupackt - aber doch wieder keine Erfüllung erfährt.

 

Dass das alles nun im zweiten Akt kommen würde, wusste ich ja nun schon und um so mehr habe ich mich darauf gefreut. Zuerst aber wieder alle diese Szenen, die ich nicht wirklich sehen muss, die aber nunmal dazu gehören, wie z.B. der „Maskenball“. Zum Glück lässt die Friedhofszene ja nicht lange warten. Colby hat vor dem Sarg ihres Vaters gelitten, gesungen, gelitten, gesungen und ich habe nur das Kreuz oben im Auge behalten, damit ich ja auch „unser“ Phantom gleich sehen würden, wenn er durch das Kreuz steigt. Der Totenkopf-Stock hat dieses Mal wieder viele Feuerbälle auf das Liebespaar Christine-Raoul geworfen, ehe dann die drohende Feuerwand das Finale ankündigt.

 

Christine hat ja durch die Machenschaften des Phantom die Hauptrolle in „seiner“ Oper „Don Juan“ bekommen und nachdem er Piangi „beseitigt“ hat, kommt er mit der o.g. Kutte auf die Bühne, um mit Christine zusammen zu singen. Mein absolutes Lieblingsstück, wenn es nun zum „Letzten Schritt“ geht. Und die ganze Zeit stehen diese Hände im Mittelpunkt.

Und wie hat er wieder gelitten, nachdem sie ihm die Maske vom Gesicht gerissen hat, und um ihre Liebe gefleht. (Warum erhört die ihn denn nicht, so hässlich ist er doch auch wieder nicht - verstehe eine diese Frau!!).

Dann die Flucht mit Christine in das Verlies der Nacht und die Verfolgung durch Raoul. Wie das Phantom die Beiden verspottet mit ihrem „...komm mit schnellen Pferden“, das uns Drei zu einem Schmunzeln verführte, weil es inzwischen schon ein geflügeltes Wort bei uns ist. Dann der Schleier, den er ihr auf den Kopf setzt,  - nanu, sitzt nicht richtig? - also geraderücken, nanu, immer noch nicht richtig? - also noch den Tüll richten.

Beeindruckend auch das gemeinsame Singen zusammen mit Christine und Raoul - immer ein Höhepunkt, wenn die Darsteller so wie heute harmonieren. Aber keiner leidet so gut wie er! Hin und her rennt er in seinem dunklen Verlies, hin- und hergerissen zwischen seiner Liebe zu Christine und dem Gefühl, sie hier zu behalten oder sie mit ihrer Liebe Raoul ziehen zu lassen. Verzweifelt, wütend, flehend, dann leichte Hoffnung, als sie sich ihm zuwendet, aber gleichzeitig die Gewissheit, dass sie nur bei ihm bleiben will, um Raoul zu retten. Dann der Kuss von Christine zu einem „fortissimo crescendo“ der Melodie „Engel der Muse“ - für ihn die Erfüllung? Sicher nicht, aber jetzt merkt er, dass es nur Mitleid und keine Liebe ist, was Christine für ihn empfindet. Er lässt Raoul ziehen und jagt ihm Christine mit einem lauten, verzweifelten „Lasst mich alleeeiiin!“ hinterher, obwohl er sie liebt und sicher gerne hier behalten hätte. Dann wieder Hoffnung, als sie nochmal zurückkommt? - ihm aber nur den Ring zurückgibt. Sein wiederholtes „Christine, ich liebe dich“ (insgesamt heute drei Mal) wird sie nicht mehr gehört haben, obwohl er laut schreit, leise fleht, verzweifelt schluchzt und schließlich sein Ende zelebriert, im Hintergrund immer die leise singenden Liebenden, die das Leid nicht wahrnehmen. Niemand wird mehr die „Musik der Nacht“ hören dürfen, denn die endet mit dem Verschwinden des Phantom. Christine hat ihn nicht erhört und mit dem lauten, wütenden Aufschrei:  Christine....nur mit allein mit dir wird es vollbracht. So stirbt mein Lied und die Musik der Nacht“, verklingt die Musik.  Leider! Und nur zu wahr!

 

Ich habe nun schon verschiedene Versionen dieser Szene mit Ian gesehen und gehört, aber es war trotzdem nie das gleiche. In wie vielen verschiedenen Versionen man wohl noch den Satz „Christine, ich liebe dich“ ausdrücken kann? Und die Anzahl der Sätze und Ausrufe variierten auch jedesmal - für mich immer wieder überraschend, aber in jeder Version sehr gut!

 

Puh, das war´s schon. Donnernder Applaus reißt mich aus meiner Starre. Hier hätte ich noch viele Stunden sitzen und zuhören können.....

Der Applaus war sehr stark und auch lang anhaltend, so dass die Darsteller einen Vorhang mehr als üblich bekamen. Aber dann war es doch zu Ende und schweren Herzens verließ ich das Theater. Hierher würde ich also nicht mehr zurückkommen - zumindest nicht zu diesem Stück.

 

Dieser Bericht schildert meine persönlichen Eindrücke von einem Musical, das mich  viele Jahre überhaupt nicht interessiert hat und dann – durch den richtigen Phantom-Darsteller – völlig in seinen Bann gezogen hat.

Ich bitte um Nachsicht ;-)

 

Hesseldorf, den 11. Juni 2001 – G.K.